Sind wir Jammerlappen? 0
-
Auch nicht mehr als andere Nationen (0) 0%
-
Eher das Gegenteil ist der Fall (0) 0%
-
Ja, und zwar große! (0) 0%
Auszug aus einem Interview mit Matthias Horx
Mensch & Büro 1/2003-03-05
? Die Wirtschaftsdaten sind dennoch deprimierend: Deutschland liegt bei dem Wirtschaftswachstum auf dem letzten Tabellenplatz in Europa. Täglich ist von Pleiten und Massenentlassungen zu lesen. Das ganze wird von einer chaotischen Politik begleitet, die nur allenthalben sich auftuende Finanzlöcher zu stopfe scheint. Sind das Fakten oder gehört diese Aufzählung schon zur Miesmacherei?
Horx: Das sind Fakten, die Frage ist nur, wie lange wir diese Litanei wiederholen, und wie wir das Ganze einordnen. Das Problem entsteht dann, wenn eine Gesellschaft ihre Klage als eine Art "Grundlied" zu einer Kakophonie werden lässt. Das geschieht derzeit in Deutschland. Nicht das Jammern ist schlimm (wer würde nicht irgendwann mal kräftig jammern müssen), sondern die Larmoyanz, das verselbstständigte Jammern gegen das Jammern, das Klagen über das Klagen, das Schimpfen über das Schimpfen. So entsteht eine apokalyptische Spirale, eine Beton-Rhetorik die völlig aus dem Ruder läuft: Krise! Katastrophe! Niedergang! Untergang! – so schreit es aus jeder Ecke, jeder Talkshow, jedem Stammtischgespräch. Wir leben in einer Kultur der Angstinszenierung. Das hat inzwischen deutlich hysterische Züge, und auf diese Weise entsteht eine Art selbst-erfüllende-Prophezeiung. Es geht nicht mehr um Veränderung, sondern eigentlich nur um die Frage, wer mit den deftigsten Worten die höchsten Einschaltquoten erringt. Ein unglaublicher aber auch gefährlicher Opportunismus: Wenn ein Professor sagt, wir müssten den Notstand ausrufen, dann glauben das inzwischen schon viele. Was, wenn es zu viele glauben? Ich möchte hier eine Lanze für die "Realität des Wandels" brechen. Über die Zukunft, über den Übergang von der Industrie- in die Wissensgesellschaft, in dem wir uns befinden, redet niemand mehr. In dieser Situation müssen wir aus Sicht der Trend- und Zukunftsforschung zu Wort melden und formulieren: Zukunft ist möglich!
? Jammern die Deutschen auf hohem Niveau?
Horx: Indeed. Wir haben noch nicht mal eine echte Rezession, sondern nur eine Wachstumsschwäche – ist das nach vierzig Jahren gigantischen Wohlstandszuwachses tatsächlich der Weltuntergang? Wir sind satt, supersatt. In vielen Konsumbereichen gibt es heute keinen Mangel, sondern ein massives Überflussproblem. Die Märkte sind überfüllt, die Hersteller und Händler einfallslos, das Dienstleistungsniveau unterirdisch. Da ist es sehr einfach, das Problem auf auf de "katastrophale Konjunktur" zu schieben, wie viele Interessenverbände es tun. Aber die Deutschen haben in anderen historischen Situationen ja durchaus gezeigt, dass sie auch anders reagieren können, man denke an die Aufbauphase nach dem Krieg.